Donnerstag, 15. Dezember 2011

Eine fast vergessene Köstlichkeit: Wewelsflether Störkringel

Wewelsflether Störkringel. Halten und schmecken garantiert
bis Ostren - nächstes Jahr. Oder auch übernächstes ...
In diesem Jahr präsentiert Zorra zum siebten Mal ihren kulinarischen Adventskalender, bei dem ich zum ersten Mal mitmache. Der Ehre dieser Teilnahme bewusst, habe ich mir für meine Premiere ein Rezept für eine ganze besondere Spezialität ausgesucht: Wewelsflether Störkringel.

Wewelsflether Störkringel sind eine längst vergessene Gebäckspezialität von der Stör, einem Nebenfluss der Elbe in Schleswig-Holstein. Die Kringel waren Vorläufer und später schmackhaft gewürzte Alternative zum Schiffszwieback. Sie kamen normalerweise als "Patronengurt" daher, also aufgereiht auf einer Schnur. So konnten sie am Gürtel getragen oder unter Deck aufgehangen werden.

Bereits vor dem Jahr 1800 wurden die Störkringel nicht nur als Schiffsproviant, sondern auch für Hamburger Jahrmärkte hergestellt, die kurz vor Weihnachten stattfanden. Angeblich befand sich sogar in Teufelsbrück in Altona eine Bäckerei. Die Kringel sind sogenannte Sadenkringel, kleine gesottene Brezeln aus Mehl, Wasser, Rübensirup und Anis. Da sie anstatt Geld auch schon mal Menschen gegeben wurden, die snurrten, also bettelten, hießen sie auch Snurr- oder Armlüdskringel. Als Anis- oder Pfefferkringel sind sie ebenso bekannt gewesen, wobei sie keinen Pfeffer enthielten, sondern Pfeffer synonym für ein exotisches Gewürz, in diesem Falle Anis, steht.

Der Teig ist noch zu trocken und muss weiter
geknetet werden, damit er sich gut zu
Kringeln formen lässt.
Hamburger oder Altonaer kennen die Kringel heute gar nicht mehr. Ich entdeckte sie, als ich in meiner Tätigkeit als kulturelle Bordsteinschwalbe eine Weihnachtstour vorbereitete. Sie werden in der Geschichte "Knecht Niklas übers Wasserging" von Hans Leip erwähnt: Der aus Jamaika kommende Hamburger Gaffelschoner "Hoffnung" bliebt justament Heiligabend vor Schulau im Eis stecken und musste auf die nächste Flutwelle warten, die das Schiff in den Heimathafen schieben sollte.

Die Mannschaft, die gehofft hatte, Weihnachten zu Hause feiern zu können, musterte den kargen Proviant - Erbsmus, Hartbrot und Plörtee - und machte sich auf ein trauriges Fest gefasst. Da sahen sie ein Licht auf sich zukommen, das Knecht Niklas gehörte, der im Auftrag seines Herrn über die Eisschollen wanderte. Im Felleisen brachte er Äpfel, Helgoländer Pfeffernüsse, Wedeler Rosinenstuten, Bauermettwurst, Wilster Marschenkäse und eben Wewelsflether Störkringel im Umfang eines doppelten Patronengurtes mit - eine ausgesprochen großzügige Gabe. So gab es für die Matrosen der "Hoffnung" ein Weihnachtswunder.

Langsam wird's. Dusseligerweise sind die Anissamen
immer gerade da, wo der Kringel gebogen wird ...
Lange Zeit kam ich den Kringeln nicht so richtig auf die Spur. Überall hörte ich, das Rezept sei geheim, niemand kenne es mehr, gebacken würden die auch nicht mehr.

Eines kalten, frostigen Januartages machten zwei Historikerkollegen und ich uns auf nach Wewelsfleth, einfach mal gucken. Vielleicht würden wir ja jemanden finden, der die Kringel noch kennt. Wir fanden uns in einem völlig verwaisten Örtchen wieder. Auf der Straße war niemand, den man mit "Ey, haste mal 'n Störkringel?" anhauen konnte. Okay, wenigstens Kaffeetrinken zum Warmwerden sollte doch möglich sein. Ähm, nein, die einzige Gaststätte war geschlossen.

Eine Schlaufe links, dann eine Schlaufe rechts ...
Aber auch uns leuchtete ein Licht in der Einsamkeit. Es gehörte zu einer Bäckerei. Wir hechteten durch die Tür, ehe für die Mittagspause geschlossen wurde. Es gab warmen Kaffee und tatsächlich die drei letzten Beutel Wewelsflether Störkringel der Saison. Wir kauften alle drei und fragten, wo's noch mehr gäbe, woher die kämen. Die Verkäuferin verwies uns an die Bäckerei Käding in Beidenfleth, aber dort war gerade - genau: Mittagspause. Und wieder war kein geöffnetes Lokal in der Nähe, in dem wir die Pause abwarten konnten. Egal, wir hatten ja drei Beutel Störkringel und eine Adresse für den Nachschub.

Gleich kommen sie in den Ofen. Ein Kringel öffnete sich
beim Sieden, aber der Rest hielt.
Elf Monate später telefonierte ich mit der Bäckerei Käding. Ich wollte nur die Öffnungszeiten wissen, um hinzufahren und so bummelig dreihundert Störkringel zu kaufen. Ich wurde gleich in die Backstube durchgestellt. Heiko Gerulat, dem die Bäckerei gehört, bedauerte, dass die Störkringel so vergessen sind. Gerne gäbe er das Rezept an Hamburger Bäcker weiter, aber heute mache sich ja niemand mehr die Mühe, so aufwändiges Backwerk herzustellen. Ist ja alles Handarbeit. Jedes Kringelchen. Viel zu mühselig. Dauert zu lange. Und so ist Gerulat der einzige, der heute noch die Kunst des Stör-, Anis- oder Pfefferkringelbackens beherrscht. Früher kamen solche Bäcker rasch zu Wohlstand, waren hoch angesehen. Heute sieht das leider anders aus.

Freundlicherweise liefert die Bäckerei Käding die Störkringel auch per Post ins Haus. Der Paketbote wunderte sich sicher, was er da transportierte. Das Paket roch meterweit nach Anis und rasselte, denn die Störkringel lagen lose im Karton. Die Dinger sind unkaputtbar, die schaffen selbst Plomben und Zähne. So ein Posttransport macht denen nichts.

Tja, und natürlich kenne ich inzwischen auch das strenggeheime Rezept für Wewelsflether Störkringel. Frau Küchenlatein war so freundlich, es mir auf eine haushaltsübliche Menge herunterzurechnen und fernmündliche Backhilfe zu geben, denn als ungeübte Brotbäckerin hatte ich einige Probleme mit dem Kneten und dem richtigen Mehl-Wasser-Verhältnis. Und Bäcker Gerulat hat recht: Die Kringel zu backen, ist wirklich Arbeit. Aber die Mühe lohnt. Möchtest Du die Mühe sparen, erreichst Du die Bäckerei Käding unter der Telefonnummer 04829 629 und läßt Dir Deine Störkringel einfach per Post liefern. Ich weiß nicht mehr, was die kosten, aber gemessen an der Arbeit und daran, dass die Herstellung in Handarbeit geschieht, sind die nicht teuer.

In diesem Jahr lernte ich übrigens, dass es auch in Glückstadt Störkringel gibt, bei der Stadtbäckerei Witt. Sie sind weicher als die Wewelsflether und auch im Sommer erhältlich. Geht natürlich gar nicht. Ist aber entschieden zahnfreundlicher.

Kulinarischer Adventskalender 2011 - Türchen 15

Wewelsflether Störkringel

Zutaten für ca. 25 Stück:

250 g Mehl
10 g Salz
25 g Anis
25 g dunkle Kuchensirup (Zuckerrübensirup)
2,5 g Frischhefe oder 0,7 g Trockenhefe
ca. 125 ml Wasser

Zubereitung:
Aus der Hefe, dem Kuchensirup, 50 g Mehl und dem Wasser einen Vorteig herstellen, der die Konsistenz eines Pfannkuchenteigs hat. Bummelig 15 Minuten stehen lassen, bis sich das Volumen vergrößerte, der Teig Blasen zeigt.

Jetzt die übrigen Zutaten und den Teig kneten, kneten, kneten, kneten, kneten, kneten, kneten ... Ich knetete ihn so bummelig 30 Minuten per Hand, wünschte mir eine Küchenmaschine, die das kann und nahm mir vor, mein Armmuskeltraining mal wieder zu intensivieren. Zwischendrin evtl. etwas Wasser dazu geben, wenn der Teig nicht geschmeidig genug ist. Probeweise ein wenig Teig abnehmen, rollen und einen Kringel formen. Zieht sich der Teig wieder zusammen, braucht er noch ein wenig Ruhe und muss noch ein bisschen - genau: geknetet werden.

Läßt sich der Kringel problemlos formen, den Backofen auf 225 Grad (Ober-/Unterhitze) vorheizen und einen Topf mit Wasser auf dem Herd zum Sieden bringen. Die Kringel in das Wasser geben und herausnehmen, sobald sie an die Wasseroberfläche steigen. Auf ein mit Backpapier ausgelegtes Blech legen und 14 bis 18 Minuten backen, bis sie hart sind.

9 Kommentare:

  1. Die Kringel sind bei uns auch unbekannt. Das Rezept merke ich mir sofort und muß es nachmachen. Ich finde es super alte Hamburger Rezepte wiederzufinden und auszuprobieren.

    Eine weitere schöne Adventszeit wünsche ich.

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  2. Ich liebe solche Geschichten um fast vergessene urige Backwaren. Wenn sie dann noch Anis beinhalten umso mehr :-)

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  3. toll ausgebuddelt und sehr interessant, danke! Einen Moment lang hab ich ja befürchtet da kommt geräucherter Stör rein...

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  4. Und lecker sind die! Hab heute mühselig einen von der Schnur geknabbert! Zähne sind aber noch dran ;-) Danke für die Kringel! Und die anderen Geschenke! Bin noch am Grübeln, was ich mit dem Zucker würze, Milchreis?

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  5. Nun hab ich soo lange so dicht bei Wewelsfleth gelebt (und arbeite immer noch so dicht bei) und habe noch nie was von diesen Kringeln gehört - wieder was Neues kennengelernt, sehr interessant - danke!

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  6. Habe sie in Glückstadt entdeckt und hab mich bis hierhin durchgegoogelt! Danke fürs Rezept!
    Für die, die kein Anis mögen: in Glückstadt habe ich die Variante mit Zwiebel und Kümmel probiert, zwar nicht so original, dafür sehr lecker!

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  7. Ich freue mich sehr, tatsächlich ein Rezept gefunden zu haben ... vielen Dank!
    Als Kinder (in den 50er Jahren) freuten wir uns immer sehr, wenn unser Vater aus Wewelsfleth Störkringel mitbrachte; wir trugen sie wie eine Kette um den Hals (zumindest eine Weile ;-) ), und besonders alt sind sie nie geworden.
    Ich muss das Rezept mal ausprobieren, wenn es klappt, hab ich ein witziges Erinnerungsgeschenk für meine Geschwister ...

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