Dienstag, 10. September 2013

Mittagspausenspaziergang zwischen Blumen, Schützen und dem Lord von Barmbeck

Grünflächen sind um mein Büro herum irgendwie rar gesät. Außerdem arbeite ich mitten in der Stadt - da Ruhe zu finden, ist gar nicht so leicht. Ruhe brauche ich aber in der Mittagspause, besonders, wenn sich an trubeligen Tagen mein dusseliges Burn Out wieder meldet und meint, es habe was zu sagen.

Blick auf den Park von oben.
An solchen Tagen verlasse ich dann das Einkaufszentrum, in dem mein Büro ist, auf dem schnellsten Wege: Durch einen Notausgang, der auf eine Balustrade führt, die von vielen, die hier arbeiten, als Rauchmöglichkeit genutzt wird, aber auch als kurzfristiges Lager.

Sieht nicht nur trist aus, sondern ist es auch: Eine der Balustraden am Einkaufszentrum, in dem ich arbeite.
Am Ende der Balustrade geht's die Treppe runter, über einen Grünstreifen, über die Straße, und dann bin ich auch schon im Park. Der ist übrigens nur selten so leer wie auf diesen Fotos, denn normalerweise machen viele, die im Einkaufszentrum arbeiten, dort Mittagspause, nutzen ihn auch die Anwohner.

Eingang in den Park.
Ich habe zwei Lieblingsplätze im Park und freue mich immer, wenn sie frei sind, ich ungestört bin: Einen zum Lesen (dann esse ich im Büro am Schreibtisch eine Kleinigkeit) und einen zum Essen.

Mein Lieblingsleseplatz.
Mein Lieblingsessplatz. 
Manchmal gehe ich aber auch nur spazieren (wenngleich ich durch den Abteilungswechsel Anfang August oft mehr Bewegung habe, als mir lieb ist). Unterwegs gibt es nicht nur Klinker und Beton, sondern auch liebevoll gepflegte Gärten.

Gelbe Blumen.
Da weiß jemand, dass auch Vögel und Insekten in der Sommerhitze Durst haben. 
Und es gibt hier viel Geschichte: An der Ecke Beim Alten Schützenhof 16-22 / Bartholomäusstraße 75/76 beispielsweise befand sich ab 1904 die Kellerkneipe des legendären "Lord von Barmbeck", bürgerlich Julius Adolf Petersen. Und ganz nebenbei sind diese um 1870 erbauten Häuser die ältesten noch erhaltenen Barmbeks und die ersten städtischen Bauten des Stadtteils. Damals wuchs der Stadtteil binnen kurzer Zeit von 3.000 auf 90.000 Einwohner. Hier wohnten im Wesentlichen Arbeiter mit ihren Familien. Damals schrieb sich der Stadtteil auch noch mit "ck".

Eingang in die ehemalige Kaschemme vom
"Lord von Barmbeck".
Die Kaschemme, wie Petersen seine Kneipe nannte, wurde zum Treffpunkt von Berufsverbrechern, zu denen auch Petersen gehörte.  Rasch wurde er Kopf einer bis zu 200 Mitglieder zählenden Bande, die sich "Barmbecker Einbrechergesellschaft" oder, nach ihrem Kopf, "Petersen-Konzern" nannte. Zu der Bande gehörten bis zu 70 Männern, für die Petersen gut sorgte: Wurde jemand verhaftet, sorgte er für einen Verteidiger und den Unterhalt der Familie des Verhafteten. Die Bande war deutschlandweit verzweigt. Das neue Phänomen der organisierten Kriminalität stellte die Polizei vor neue Herausforderungen.

Petersen wurde 1920 nach einem Überfall auf das Postamt in der Susannenstraße, bei dem über 220.000 Mark und weitere 350.000 Mark in Briefmarken erbeutet wurden, stadtbekannt. Zuvor überfiel er einen Geldtransporter der Farmsener Trabrenngesellschaft, erbeutete dabei 190.000 Mark, und erleichterte die Amtskasse der Seewarte um 50.000 Mark.

Die Hamburger Polizei legte im Laufe der Zeit 20 Meter Akten über Petersen an, 200 Delikte wurden im Laufe der Jahre gegen ihn verhandelt, 400 Personen mussten dabei aussagen, 3.000 Haftbefehle wurden nach seinen umfänglichen Geständnissen ausgestellt. Die erste Haftstrafe trat er schon mit 13 Jahren an: Nach dem Diebstahl einer Geldbörse mit 20 Mark kam er für fünf Tage ins Gefängnis. Die Geschichte zeigt: Abschreckend wirkte dieses Erlebnis nicht.

Gab der Straße ihren Namen: Ein Schützenhof, der 1862
an der Straße angelegt wurde. Dieses Haus mit dem
(leerstehenden) Lokal wurde später gebaut.
Auch wenn Petersen und seine Bande sehr viel Geld erbeuteten, lebten sie bescheiden. Sie legten Wert auf gute Kleidung (daher rührt auch Petersens Ökelname, denn er trug mit Vorliebe Bowler, maßgeschneiderte Anzüge, steife Kragen und gewienerte Schuhe), und zumindest Petersen sorgte für die Seinen: So kaufte er seiner Lebensgefährtin beispielsweise eine Pension in den Colonnaden.

Petersen wurde 1921 zu 15 Jahren Haft verurteilt, schrieb im Gefängnis seine Memoiren, wurde 1932 wegen guter Führung entlassen, aber schon wenige Monate später wieder rückfällig.Im Oktober 1933 wird er wieder festgenommen. Am 21. November 1933 erhängt er sich in der Haft.

Das Haus, in dem Petersens Kaschemme war, steht bis heute. Als es samt benachbarter Häuser vor zwei Jahren abgerissen werden sollte, wehrten sich Mieter, Lokalpolitiker und die Geschichtswerkstatt. Erfolgreich: Im Mai 2013 wurde das Ensemble in die Denkmalliste eingetragen.

Gegenüber Petersens ehemaliger Kaschemme erinnert der Name eines leerstehenden Lokals daran, dass Barmbek Mitte des 19. Jahrhunderts noch dörflich war und genug Platz für Schießstände hatte: 1862 eröffnete hier ein Schützenhof mit Schießständen. Dreißig Jahre später war das Gebiet zu dicht besiedelt für Schießstände, und der Schützenhof wurde verlegt.

Mein Weg führt jetzt so langsam durch die Nebenstraßen zurück zum Einkaufszentrum und nochmal vorbei an bunten Gärten mit skurrilen Bewohnern.

Bunter Vorgarten.

Bunte Blume aus buntem Vorgarten.

Ei, wer hat sich denn da versteckt?!

Großer roter Vogel.
Dienstags sehe ich dann schon die Menschen, die bei der Elim-Gemeinde in der Bostelreihe Schlange stehen, lange, bevor Lebensmittelausgabe und Kleiderkammer um 15 Uhr öffnen - ein herber Kontrast zur Glitzerwelt im Einkaufszentrum, in das ich jetzt wieder eintauche, um zu meinem Schreibtisch zurückzukehren..

Bei der Geschichtswerkstatt gibt es übrigens einen Mitschnitt einer Lesung von Rolf Becker aus den Memoiren, die Petersen 1927 in Haft schrieb, zu kaufen. 

Quellen: taz, Hamburger Abendblatt Artikel 1 / Artikel 2, Wikipedia.

3 Kommentare:

  1. Vielen Dank fürs virtuelle Mitnehmen auf deinem interessanten Weg durch die Mittagspause!

    Dein Lieblingsleseplatz, aber auch dein Lieblingsessplatz könnten mir auch gefallen.

    Diesen "ei, wer hat sich da denn versteckt?" hab ich übrigens auch. :-)

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    1. Ich finde diese Vögel total niedlich - schade, dass unser Garten so klein ist.

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  2. Wie wir auf Twitter gerade festgestellt haben, ist die Welt ein Dorf!
    Von deinem Arbeitsplatz kannst du auf meinem Balkon gucken. Nun werde ich dir jeden Tag zuwinken! Und die Geschichte vom Lord von Barmbek hat mich schon immer fasziniert!
    Ich grüße dich und winke dir zu,
    Kirsten

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